weg2

Von Lars Schmid

„Wir sind in das Reich des polizeilichen Zartgefühls eingetreten.“ Diese Diagnose stellte die Situationistische Internationale (SI) bereits in den 1960er Jahren. 1 Eine Formulierung, die deshalb so treffend ist, weil sie ein Paradox formuliert und Dinge zusammenbringt, die erfahrungsgemäß nicht zusammen gehören, eben Polizei und Zartgefühl. Ob und wie Polizei und Zartgefühl zusammenhängen, ist die Frage, die diesen Beitrag beschäftigt.

Dieser Text ist die schriftliche Version des Vortrags, den Lars Schmid am 24.9.09 im Rahmen der Veranstaltung “Kontrolle der Räume” gehalten hat.

I: Jacques Rancières Begriff der Polizei

Wenn überhaupt eine Chance bestehen soll, die Verbindung herzustellen, dann nur, wenn Polizei anders gedacht wird denn als repressiver Staatsapparat, anders als das, was man gemeinhin unter der Polizei versteht. Einen Vorschlag, Polizei allgemeiner und grundsätzlicher zu denken, macht Jacques Rancière: „Die Polizei ist zuerst eine Ordnung der Körper, [...] die dafür zuständig ist, dass diese Körper durch ihre Namen diesem Platz und jener Aufgabe zugewiesen sind; sie ist eine Ordnung des Sichtbaren und des Sagbaren, die dafür zuständig ist, dass diese Tätigkeit sichtbar ist und jene andere es nicht ist, dass dieses Wort als Rede verstanden wird, und jenes andere als Lärm.“ 2

Polizei ist hier ein Begriff, um ein Ensemble von Machttechnologien zu bezeichnen, die ordnend im Bereich des Sinnlichen operieren und festzulegen versuchen, wer wo auf welche Weise erscheinen darf, wer was wo wie zu sagen hat, wer wie gesehen oder übersehen wird. Die Polizei bestimmt, so Rancière an einer anderen Stelle, die „Eigenschaften der Räume“. 3 Komplementär dazu ordnet die Polizei die Körper, indem sie ihnen Namen zuweist (sie identifiziert) und Ihnen (lokalisierbare) Plätze und Aufgaben gibt.

Aus der Definition Rancières ergeben sich verschiedene Konsequenzen. Das Wirken der Polizei wird im Bereich des Sinnlichen lokalisiert, sie operiert als Wahrnehmungs- und Kommunikationsregime, nicht als Staatsgewalt (mit Betonung auf Gewalt). Mit diesem Perspektivenwechsel erscheint auch all das, was man gemeinhin oder im herrschenden öffentlichen Diskurs als Politik bezeichnet, als Terrain polizeilichen Handelns. Die Erweiterung des Polizei-Begriffs auf alle möglichen Formen ordnender, aufteilender Strategien und Techniken wirft die Frage nach der Rolle der „herkömmlichen“ Polizei auf, d.h. der Polizei, auf der in Großbuchstaben Polizei draufsteht. Rancière bezeichnet sie als die niedere Polizei. 4

II: sanfte und niedere Polizei:

Diese niedere Polizei kommt immer dann ins Spiel, wenn die sanften Formen der Machtausübung versagen, weshalb Rancière formulieren kann:

„Es ist die Schwäche und nicht die Stärke dieser Ordnung [der sanft-polizeilichen, L.S.], die in bestimmten Staaten die niedere Polizei anschwellen lässt bis zur Übertragung der Gesamtheit der Funktionen an sie.“

Die Frage ist, ob sich die niedere Polizei auf eine Art böses Paralleluniversum zur sanften Polizei reduzieren lässt, das dann auf den Plan tritt, wenn die sanft-polizeiliche Ordnung in ihrem Funktionieren gestört wird. Ich möchte vorschlagen, die niedere Polizei als notwendige Bedingung des Funktionierens der sanft-polizeilichen Ordnung zu begreifen, da die Wirksamkeit der sanften Machtmechanismen letztlich auch davon abhängt, dass sie glaubwürdig mit dem Einsatz der niederen Polizei drohen können. Auch wenn Technologien wie die Teleüberwachung auf eine Internalisierung der Überwachung zielen, d.h. die Selbstüberwachung forcieren und auf eine präventive Anpassung der überwachten Subjekte an die herrschende Ordnung hoffen, ist es doch wenig plausibel, dass dieses Ziel erreicht werden könnte, wenn es nicht diese Drohung mit einer Sanktion der niederen Polizei gäbe. Auch die Wirksamkeit von Kamera-Attrappen spricht nicht gegen diese These, weil erstens die überwachten Subjekte nicht wissen können, dass die Drohung der Kameras eine leere Drohung ist und weil zweitens ein nur auf Attrappen basierendes Überwachungsnetz vermutlich wirkungslos würde, sobald sich herumspräche, dass Verstöße gegen die Ordnung folgenlos bleiben.

Sanfte und niedere Polizei sind notwendig aufeinander bezogen. Das Reich des polizeilichen Zartgefühls ist immer auch ein Reich der Polizei-Gewalt. Und die Grenzen zwischen beiden sind sehr fließend. Das zeigt sich etwa an der Figur, des „Polizei-Communicators“, der ein Moment der sanften Polizei auf dem Feld der niederen verkörpert.

III: die Polizei in den Kontrollgesellschaften

Rancière nennt als eine der Funktionen der Polizei die Aufgabe, jedem Körper einen Platz zuzuweisen. Diese Formulierung scheint eher auf polizeiliche Strategien innerhalb von Disziplinargesellschaften anzuspielen, in denen Macht, wie Foucault gezeigt hat, über die Vereinzelung, Isolierung, Immobilisierung und Überwachung der Körper ausgeübt wird. 5 Im Übergang zur Kontrollgesellschaft verschwindet der – um die Begriffe von Deleuze zu benutzen – der gekerbte Raum. Die Räume werden glatt, nicht die Festsetzung, sondern die Mobilisierung und Beweglichkeit der Körper müssen in den Kontrollgesellschaften gewährleistet werden. 6

Diesen Übergang von der Disziplin zur Kontrolle lässt sich wiederum gut an der Ablösung der Überwachungs- und Normierungsarchitektur des Panoptikums durch das Netzwerk der Teleüberwachung zeigen. Beiden Überwachungsdispositiven gemeinsam ist der überwachende Blick und mit ihm die ‚Hoffnung’ (die Hoffnung in der Polizei), dass der fremde Blick zum eigenen, der überwachende Blick internalisiert wird. Einer der wesentlichen Unterschiede ist aber, dass der Raum der Überwachung vollkommen anders organisiert ist. Um die Wirksamkeit des Panoptikums sicherzustellen, war es notwendig, jedem Häftling eine Zelle zuzuweisen, die Körper zu immobilisieren. Die Teleüberwachung dagegen operiert (insofern sie nicht als Element einer Festungs-/ Abgrenzungsarchitektur auftritt) in offenen Räumen. Das Objekt der Kameras im Stadtraum ist die Menge in Bewegung, sind die Verkehrsströme.

Ich würde die These wagen, dass die zentrale Funktion der Polizei innerhalb der Kontrollgesellschaften die Verkehrskontrolle in allen möglichen Formen ist. Sie soll den reibungslosen Fluss ermöglichen oder gegebenenfalls Bewegung unterbinden (wie an der EU-Außengrenze).

Interessant ist in diesem Zusammenhang ein kurzer Abstecher zum Intelligent-Pedestrian-Surveillance-System, einem System der automatisierten Überwachung, das Alarm schlägt, wenn die Kameras ‚Auffälligkeiten’ beobachten, also Szenen, die aus dem gewohnten Gang der Dinge herausfallen. Als ‚auffällig’ registrieren die Kameras nicht zuletzt unbewegliche, stillstehende Körper. Ein Körper, der sich nicht im ‚gebotenen’ Tempo durch die Stadt bewegt, ist – so die Logik des Systems – zumindest des Herumlungerns, der unproduktiven Zeitverschwendung verdächtig. 7

Die Polizei, so könnte man in Ergänzung zu Rancières Definition formulieren, hat auch die Aufgabe, jene Bewegung zu ermöglichen und diese zu unterbinden. Sie hat für den reibungslosen Fluß zu sorgen und wird deshalb Verkehrspolizei auf dem glatten Terrain der Kontrollgesellschaft. Und dies gilt gleichermaßen für die sanfte und die niedere Polizei, für die Techniken der Bewegungskontrolle in Shopping-Malls wie für die gewaltsame Unterbindung von Migrationsbewegungen.

weg_grünanlage

IV: Im Reich des polizeilichen Zartgefühls: Das Kabelwerk in Wien Meidling

Nach diesen Bemerkungen über Begriff und Funktion der Polizei soll es jetzt um eine städtebauliche Manifestation eines sanften polizeilichen Regimes gehen:

Das Kabelwerk im 12. Wiener Gemeindebezirk Meidling ist ein Ende der neunziger Jahre entstandener (und bis heute nicht ganz fertig gestellter) Wohnbezirk für ca. 3000 Menschen auf dem Gelände einer ehemaligen Kabelfabrik. Und es ist ein Beispiel, wie es im Reich des polizeilichen Zartgefühls zugeht. Das Kabelwerk (claim: „ein Stück Stadt“) wurde mit exzessiver und durchaus ernst gemeinter Bürgerbeteiligung entwickelt mit dem Ziel, eine Identifikation der BewohnerInnen mit dem Areal zu ermöglichen. Ausdrückliches Ziel war außerdem, keine gated community zu schaffen. Und tatsächlich gibt es auf dem gesamten Gelände keine oder zumindest kaum Zäune (außer um die Gärten der Eigenheime), lediglich einige Poller an den Zufahrten, denn das Kabelwerk ist autofrei. Es gibt außerdem auffallend wenige Überwachungskameras, keinen Sicherheitsdienst und insgesamt sehr wenige Spuren der niederen Polizei. Dafür gibt es tatsächlich eine Graffitistraße mit einer riesigen Betonwand (Die Rückwand des Parkhauses), die in Zukunft besprayt werden soll.

Interessant an dem Areal ist, dass sich dort kaum Spuren einer Nutzung / Aneignung durch die BewohnerInnen finden lassen, was sich als Ausdruck einer weitreichenden ‚Selbst-Polizierung’ des Areals lesen lässt. Überwachungskameras sind überflüssig, wenn die AnwohnerInnen diesen Job von ihren Balkonen aus erledigen. Und für Graffitis gibt es ja die ausgewiesene Fläche – auf dem gesamten Areal findet man lediglich 3 oder 4 tags. Die Selbst-Polizierung geht so weit, dass man sich auch als Fremder kaum traut, seine Kippen auf den Boden zu werfen, weil man sich sicher sein kann, dass dies zumindest missbilligende Blicke auf sich zieht. Das Forum mykabelwerk.com stellt außerdem sicher, dass sich eine Beschwerde-Öffentlichkeit bildet, die auf jede kleine Störung der gewohnten Ordnung sofort reagiert. Für das Funktionieren der Selbst-Polizierung der Kabelwerk-BewohnerInnen scheint außerdem wichtig zu sein, dass es auf dem Gelände ein Haus für temporäres Wohnen gibt, in dem hauptsächlich Studierende leben, darunter viele Migranten. Und mit ihnen haben die BewohnerInnen ein Gegenüber gefunden, in dessen Angesicht sie sich als Quartiers-Bürger-Polizei konstituieren können. Eine lange Wiener Tradition wird hier aufgenommen: Die Gefahr kommt von „den Türken“ – das hört man zumindest sehr regelmäßig von den AnwohnerInnen.

Doch selbst das Kabelwerk kommt nicht ohne die niedere Polizei aus, die 3-4 mal am Tag Streife fährt (trotz Autofreiheit). Diese Kontrollfahrten dienen aber anscheinend beinahe ausschließlich dazu, dafür zu sorgen, dass niemand sonst mit dem Auto auf das Gelände fährt – da ist sie wieder, die Verkehrspolizei. 8

V: Was tun?

Wie lässt sich das geordnete und saubere Reich des polizeilichen Zartgefühls, wie es sich im Kabelwerk prototypisch realisiert, in Unordnung bringen?

Im Rahmen eines „performativen Mappings“ des Kabelwerk-Areals durch die Performance-Company red park 9 wurde eine interessante Erfahrung gemacht mit einem kleinen Projekt, das sich im Nachhinein als eine anti-polizeiliche Maßnahme begreifen lässt, in dem Sinne, dass es durchaus eine Ordnungsmaßnahme war, die in die alltägliche Ordnung interveniert: Eine sehr ordentliche Linie aus rotem Gaffa wurde durch das Areal gezogen. Die rote Linie führte auch zielstrebig auf einen kurzen Trampelpfad zu, den sich die Bewohner als Abkürzung auf dem Weg zur U-Bahn gebahnt hatten (und dieser Trampelpfad ist einer der ganz wenigen Spuren irgendeiner Aktivität auf dem Areal). Dass der Trampelpfad durch die rote Linie zum Teil eines offiziellen Wegenetzes wurde, dass ihm überhaupt Aufmerksamkeit geschenkt und die Aufmerksamkeit darauf gelenkt wurde, löste wenn nicht einen kleinen Skandal so doch eine Fülle von Beschwerden aus, was dazu führte, dass eine Einwohnerin die rote Linie schließlich entfernte. Unsere völlig sinnlose Ordnungmaßnahme wurde als eine Form der Unordnung wahrgenommen, die in den Augen der AnwohnerInnen die Gefahr barg, andere Unordnungsmaßnahmen nach sich zu ziehen. Die Ordnung musste wiederhergestellt werden, indem die Linie beseitigt und der Trampelpfad wieder ‚unsichtbar’ gemacht wurde. 10

Ich möchte nicht behaupten, dass diese Aktion in irgendeiner Form Modellcharakter beanspruchen kann. Es könnte sich jedoch lohnen, darüber nachzudenken, ob diese Strategie einer anti-polizeilichen Aktion Potenzial hat. Anti-Polizeilich heißt – noch einmal – nicht, dass es eine konfrontativ gegen die (sanfte oder niedere) Polizei gerichtete Maßnahme ist. Es heißt eher, die Ordnung des Sichtbaren offenzulegen, ohne einfach als Moment der Unordnung zu erscheinen, der leicht ignoriert werden kann. Gerade weil sich die rote Linie ihrer Einordnung entzog (mit einem Graffiti ist man diskursiv leicht fertig, es ist einfach eine Schweinerei), wurden die polizeilichen Einordnungen und die gewohnten Spaltungen schwierig. Und genau in dieser Infragestellung der polizeilichen Strategie der Spaltung in Ordnung und Unordnung, Sauberkeit und Dreck, Kunst und Schmiererei, liegt ein Moment des Politischen.

Anmerkungen:

1 zu den Positionen der SI vgl.: Roberto Ohrt: Der Beginn einer Epoche – Texte der Situationisten, Hamburg 1995.
2 Jacques Rancière: Das Unvernehmen, Frankfurt am Main 2002.
3 Man könnte sagen, Rancière entwickelt hier ein szenisches Konzept der Polizei.
4 Vgl. J. Rancière: Das Unvernehmen, a. a. O., S. 40.
5 Vgl. den Klassiker: Michel Foucault: Überwachen und Strafen – Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1976
6 Vgl.: Deleuze, Gilles: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, in: ders.: Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt am Main 1993
8 Zum Kabelwerk in Wien/Meidling siehe: www.kabelwerk.at und den AnwohnerInnen-Blog www.mykabelwerk.com.
9 Zur Arbeit von red park siehe: www.red-park.net; das performative Mapping des Kabelwerks wurde dokumentiert unter: www.redparkkabelwerk.blogspot.com
10 Bilder und ein weiterer Text zu dieser Aktion finden sich im genannten Blog.
taboo, 01.01.10